Mythos Europa
Mythos Europa – Klänge Europas
Europas Geist wurzelt in der Antike und der Name unseres Kontinents wird seit dem Altertum mit der mythologischen Gestalt der Europa in Verbindung gebracht. Der Sage nach lebte sie als phönizische Königstochter an der Küste des heutigen Libanon. Von Göttervater Zeus wurde sie nach Kreta entführt, wo sie zur Namensgeberin des gesamten Erdteils werden sollte. Zu den wichtigsten Ideen, die im Zusammenhang mit dem »Mythos Europa« in die Welt transportiert wurden, gehört die der Demokratie! Doch im Rahmen einer kulturellen europäischen Identität spielten dabei seit dem ausgehenden Mittelalter auch die Künste, besonders die Musik, eine zentrale Rolle. Unter dem Titel »Mythos Europa – Klänge Europas« lenkt das Festival seit 2021 den musikalischen Blick in ein Nachbarland. Nach Belgien, den Niederlanden, Italien und Österreich in den Vorjahren steht nun Frankreich im Mittelpunkt.
Über Jahrhunderte hat Frankreich die klassische Musiklandschaft entscheidend geprägt und bereichert. Die Grundlagen wurden schon im Mittelalter gelegt, als ausgehend von der Troubadourlyrik eines Wilhelm IX. von Aquitanien Komponisten wie Guillaume de Machaut und Clément Janéquin mit ihren musikalischen Verserzählungen und Motetten folgten. Unter der Regentschaft von König François I. (1494 – 1547) wurde Paris nicht nur das politische, sondern auch das kulturelle Zentrum Frankreichs. Mittelpunkte der Musikpflege waren über Jahrhunderte der Königshof, die Adelshäuser und die Universität. Im Barock erreichten das Hofleben und die Repräsentation der Monarchie durch die Kunst einen Höhepunkt. Prägende Namen jener Blüte waren Komponisten wie Jean-Baptiste Lully, Marc-Antoine Charpentier, François Couperin oder Jean-Philippe Rameau. Nach den Wirren der Französischen Revolution etablierte sich die »Grand Opéra«, die französische Ausprägung eines repräsentativen, großformatigen Operntypus, mit Vertretern wie Giacomo Meyerbeer oder Daniel-François-Esprit Auber. Spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts war Paris dann endgültig die unangefochtene Kulturhauptstadt der Welt! Die Liste der hier tätigen und vielfältige Akzente setzenden Komponisten reicht von Frédéric Chopin, Hector Berlioz und Jacques Offenbach über César Franck, Camille Saint-Saëns und Charles Gounod bis zu Jules Massenet, Georges Bizet, Léo Delibes und Gabriel Fauré. Mit Claude Debussy und Maurice Ravel hielt dann der musikalische Impressionismus Einzug, der wiederum im 20. Jahrhundert vom Neorealismus eines Francis Poulenc, dem Minimalismus eines Erik Satie oder den Avantgarde-Klängen eines Olivier Messiaen und Pierre Boulez abgelöst wurde. Und parallel dazu sorgten auch noch die Chansons von Edith Piaf, Juliette Gréco, Boris Vian, Charles Aznavour, Françoise Hardy, Serge Gainsbourg & Co. für eine weltweite Ausstrahlung Frankreichs als Musiknation.
Dieses Spannungsfeld enger Verflechtungen zwischen den Epochen und Gattungen spiegeln zahlreiche Programme wider – mit den Besten, die man sich dafür nur wünschen kann. Schon im Rahmen der Eröffnung stehen bei Les Musiciens du Louvre Offenbach und Bizet im Mittelpunkt, während Félicien Brut, Thibaut Garcia und Lucienne Renaudin Vary das Chanson-Genre aufgreifen. Das Quatuor Van Kuijk zieht für seine »Impressions parisiennes« ebenso Musik von Fauré und Ravel heran wie Lucas Debargue in seinem Recital, während Richard Galliano seine »New Musette« mit Astor Piazolla konfrontiert. Thomas Dunford unterstreicht den Zauber seiner Laute auch mit Musik von Marin Marais, wohingegen er im »Idylle«-Programm mit Mezzosopranistin Lea Desandre gleich den ganz großen Bogen von Charpentier über Offenbach und Debussy bis zur Chansonnière Barbara schlägt. Das Quartett von Nevermind wiederum macht mit kaum bekannter barocker Kammermusik von Jean-Baptiste Quentin bekannt. Philippe Herreweghe, das Orchestre des Champs-Elysées und das Collegium Vocale Gent hingegen haben Luigi Cherubinis Requiem im Gepäck und erinnern daran, dass der in Italien Geborene einer der führenden Komponisten der französischen Klassik und frühen Romantik war. Thierry Escaich präsentiert sich sowohl mit einem eigenen Werk als auch mit einer Komposition von Louis Vierne, einem seiner Vorgänger im Amt des Titularorganisten von Notre-Dame. Weitere eingeladene französische Ensembles wie Il Caravaggio, Le Concert Spirituel und Le Concert de la Loge machen zusätzlich auch mit nicht-französischen Repertoires deutlich, wie reich und pulsierend das Musikleben noch heute in der »Grande Nation« ist …